Kapitalismus an der Kippe

Radikaler Wandel ohne Krise

Wir stehen an einem Wendepunkt in der Geschichte, an dem die akute Unzufriedenheit mit dem Kapitalismus zunimmt. Die wettbewerbsorientierte Produktion von Profit – die Schlüsseldynamik des Kapitalismus – wird von allen an diesem Prozess Beteiligten als schädlich empfunden.
Nicht nur die ungerechte Verteilung des Reichtums und vor allem seine Entstehung werden in Frage gestellt, sondern auch seine Auswirkungen auf Individuen, Gemeinschaften und die Natur.

Unsicherheit ist für viele Menschen bedrückend. Albena Azmanova sieht dabei auch eine Chance, entscheidende Veränderungen herbeizuführen – ohne schwere Krise des Kapitalismus, große Utopien oder sogar Revolutionen.
Selbst Menschen, die gut verdienen, sind mit der Monotonie, in der sie leben, nicht mehr zufrieden, wagen es aber angesichts unsicherer Zeiten nicht, sie aufzubrechen. Viele Wohlhabende fühlen sich keineswegs als Gewinner des Systems, sondern als Opfer.
Helfen kann hier nur eine Stärkung der sozialen Absicherung. Sie erlaubt es den Menschen, sich zu verändern. Und sie stellt auch die Wirtschaft auf die umweltfreundlichsten Produkte um, die es gibt: Liebe und Zuwendung, Vertrauen und gegenseitige Unterstützung.

Reviews

Kann der Kapitalismus auch ohne Krise überwunden werden?
Es klingt fast zu schön: Die linke Politologin Albena Azmanova, die für die britischer Universität Kent in Brüssel arbeitet, beschreibt in ihrem neuen Buch "Kapitalismus an der Kippe" in hoffnungsvoller Aufbruchsstimmung den radikalen Wandel des Kapitalismus ohne Krise. Nun könnte man meinen, dass etwas Radikales nicht ohne Krise zu haben ist, doch Azmanova zeichnet ein ganz anderes Bild.
Die dunklen Seiten des Kapitalismus - Ungleichheit und ständige wirtschaftliche Unsicherheit - schadeten ihrer Ansicht nach längst nicht mehr nur den "Armen und Ausgegrenzten", sondern auch all jenen, die sich bisher eigentlich als "Gewinner der Machtverteilung" fühlen durften. Für Azmanova leben wir deshalb nicht einfach unter dem Kapitalismus, sondern unter dem "Prekaritätskapitalismus", einem Kapitalismus also, bei dem potenziell jedes Leben permanent von Armut bedroht ist.
Wie soll nun aber unter der Bedingung des Prekariatskapitalismus eine "tiefgreifende Umwandlung" des Systems ohne echte Krise möglich sein? Viele linke Politiktheoretikerinnen und Politiktheoretiker sind inzwischen ja eher davon überzeugt, dass es ohne eine echte - also mitunter auch gewaltsame - Revolution nicht zu wesentlichen Veränderungen kommen kann.
Azmanova, einst selbst aktive Dissidentin im Kampf gegen die kommunistische Diktatur in ihrer Heimat Bulgarien, gründet ihre Hoffnung auf einen großen friedlichen Wandel darauf, dass die Lage Notwendigkeit von Reformen, die der sozialen und wirtschaftlichen Unsicherheit entgegenwirken, so unübersehbar mache. Diese Reformen schüfen dann jedoch die materiellen Voraussetzungen dafür, den "Protest in eine radikalere und konstruktivere Richtung zu lenken", was wiederum die "wütende Menge" in die Lage eines politischen Akteurs mit einer "positiven Agenda" zur Überwindung des Kapitalismus versetzen würde.
Auf diesem Weg entstünde dann eine "politische Ökonomie des Vertrauens", wodurch ein "Geist des Unternehmertums" und des "Experimentierens" gedeihen könne. Offen bleibt leider die Frage, ob eine Wirtschaft, in der jeder Vermögens- und Einkommenssicherheit besitzt, überhaupt möglich ist. Geht dies nicht mit einem zu hohen moralischen Anspruch einher, auf die sich unmöglich alle einigen können? Der grundlegenden Annahme, dass ohne ausreichende Existenzsicherung die Menschen die Kontrolle über ihr Leben verlieren, möchte man natürlich durchaus unbedingt zustimmen. Die Frage ist jedoch, ob politisch engagierte "sozialistische Millennials", die neue Generation, genügend zielgerichtete politische Kraft entwickeln können und wollen, um die Überwindung des Kapitalismus auf diese Art zu schaffen.
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8 Jul, 2021
Sarah Zapf, Freelance writer for the Süddeutsche Zeitung newspaper
SZ